
Eines Sonntags, während ich in Bad Tölz durch die Straßen schlenderte, entdeckte ich einen Karton voller Bücher zum Verschenken. Neugierig stöberte ich darin – und ein Buch über Zeit zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Sofort dachte ich an meine eigenen Erfahrungen, meinen Praxisschwerpunkt chronische Erschöpfung und wie eng unser Zeitgefühl mit Stress und Überlastung verknüpft ist. Diese Entdeckung inspirierte mich, einen Beitrag über unser modernes Zeitempfinden und den Umgang mit Erschöpfung zu schreiben.
Warum fühlt sich Zeit heute so knapp an–und wie wir sie wieder bewusster nutzen können

Das Gefühl, dass man der Zeit hinterherrennt. Der Tag vollgepackt ist, aber am Ende doch das Gefühl bleibt , nicht genug geschafft zu haben. In unserer heutigen Gesellschaft wird Zeit oft als Ressource betrachtet, die es effizient zu nutzen gilt. Doch führt nicht genau das dazu, dass wir uns immer gehetzter fühlen?
Die Taktung des Alltags
Unser Leben ist stark durchgetaktet.
Arbeitszeiten, Termine, soziale Verpflichtungen und die ständige Erreichbarkeit durch digitale Medien lassen wenig Raum für echten Stillstand. Selbst unsere Freizeit ist oft durchgeplant, sodass sie sich kaum noch nach echter Erholung anfühlt.

Das Gefühl, nie „fertig“ zu sein
Früher war Arbeit klarer strukturiert: Es gab einen Feierabend, nach dem wirklich Schluss war. Heute verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit – durch Homeoffice, ständige Kommunikation und den Druck, sich selbst ständig weiterzuentwickeln. Es gibt immer noch etwas zu tun, noch ein Buch zu lesen, noch eine Fähigkeit zu verbessern.
Karlheinz A. Geißler nennt das in seinem Buch „Es muss mehr geben als nur Eile“ den „Optimierungszwang“ – ein Phänomen, das uns glauben lässt, wir könnten unsere Zeit immer noch besser nutzen. Doch dieser Drang nach Effizienz lässt uns oft das Gefühl der Zufriedenheit verlieren.
Zeit als Ware – und warum das nicht alles ist
Seit der Industrialisierung hat sich unser Zeitverständnis stark verändert. Früher war Zeit stärker an natürliche Rhythmen gebunden – den Sonnenaufgang, die Jahreszeiten, das eigene Körpergefühl. Heute ist Zeit eine messbare, planbare und handelbare Größe geworden.
Geißler beschreibt, wie sich unser Zeitverständnis verändert hat:
- Die Uhr als Taktgeber: Seit die Zeit in Minuten und Sekunden eingeteilt ist, leben wir nach festen Takten. Was früher nach Gefühl entschieden wurde (z. B. „Ich esse, wenn ich Hunger habe“), wird heute von der Uhr bestimmt („Es ist 12 Uhr, also ist Mittagspause“).
- Zeit ist Geld: In der modernen Arbeitswelt wird Zeit oft mit Produktivität gleichgesetzt. Wer „seine Zeit verschwendet“, gilt als ineffizient. Doch was, wenn genau diese „verschwendete“ Zeit die wertvollste ist?
Geißler lädt dazu ein, Zeit nicht nur als Ressource zu sehen, sondern als etwas, das unserem Leben Sinn gibt. Zeit ist nicht nur zum Arbeiten da – sie ist zum Leben da.
Wie wir Zeit bewusster nutzen können – trotz äußerer Zwänge

Wir können unser Zeitgefühl verändern, indem wir uns bewusst von starren Taktungen lösen und unsere eigene innere Zeit wiederfinden.
1.Micro-Pausen ohne schlechtes Gewissen
Wir sind es gewohnt, produktiv zu sein – und fühlen uns oft schuldig, wenn wir einfach „nichts tun“. Doch genau diese kleinen Pausen helfen uns, aus dem ständigen Zeitdruck auszubrechen. Schon drei bewusste Atemzüge oder ein Blick aus dem Fenster können helfen, den Moment bewusst wahrzunehmen.
💡 Tipp: Stelle dir mehrmals am Tag einen sanften Timer als Erinnerung für eine 30-Sekunden-Pause.
2. Qualität statt Quantität – wie wir Zeit spüren können
Anstatt mehr Zeit zu suchen, sollten wir lernen, die Zeit, die wir haben, intensiver zu erleben. Ein kurzes, echtes Gespräch ist wertvoller als eine Stunde zielloses Scrollen.
💡 Tipp: Frage dich jeden Abend: Welcher Moment des Tages hat sich wirklich gut angefühlt?
3. Eigene Rhythmen finden – gegen die Diktatur der Uhr
Nicht jede*r tickt gleich – und nicht jeder Moment des Tages ist gleich produktiv. Wer seine eigenen Hoch- und Tiefphasen kennt, kann sich dem Rhythmus des eigenen Körpers anpassen, statt sich von außen fremdbestimmen zu lassen.
💡 Tipp: Notiere für eine Woche, wann du dich energiegeladen fühlst und wann du eher müde bist – und passe deine Aufgaben daran an.
4. Entschleunigung als Kraftquelle – Zeit wieder genießen
Wir brauchen Momente, in denen wir nicht auf die Uhr schauen, sondern einfach nur sind.
Geißler beschreibt zB, dass Entschleunigung kein Luxus ist, sondern eine Notwendigkeit, um wieder in Kontakt mit sich selbst zu kommen.
Zu Recht, denn auch in meiner Praxis beobachte ich katastrophale Phänomene. Da gehört bei mir weitaus mehr dazu als nur Behandlungen auf körperlicher Ebene!
💡 Tipp: Baue tägliche Rituale ein, die nicht auf Effizienz ausgerichtet sind – z. B. ein Spaziergang ohne Handy oder das bewusste Zubereiten eines Tees.
Fazit: Zeit gehört uns – wenn wir sie uns nehmen
Es ist eine Illusion, dass wir Zeit so gestalten können wie wir möchten! Wir definieren und gestalten lediglich nur uns selbst und unser Verständnis davon.
(Wohlgemerkt: Bevor das erste mal Zeit eingeteilt wurde in 60 Minuten, 60 Sekunden usw und die ersten Uhren entwickelt worden sind, lebte man nach Zyklen und Naturrhythmen. )
Wir können die äußeren Strukturen nicht von heute auf morgen verändern, aber wir können eine neue Perspektive auf Zeit entwickeln. Es geht nicht darum, jede Minute perfekt zu nutzen, sondern wieder mehr Zeit zu spüren. Denn das Leben passiert nicht in den geplanten Momenten – sondern oft genau dazwischen.

Quellen:
-„Es muss in diesem Leben mehr als Eile geben.“ (Karlheinz A. Geissler)
–https://www.philomag.de/lexikon/zeit
Bilder: Canva Design

